Ich wollte noch einmal die Sonne sehen
Wiebke Terbrüggen ist Schülerin an der Euro Akademie Hannover, momentan im zweiten Jahr ihrer Ausbildung zur Kaufmännischen Assistentin. Getreu dem Leitspruch der Euro Akademie „Persönlichkeit durch Bildung“ ist sie an vielfältigen Themen interessiert und stieß so auf einen Vortrag in Münster von einer Überlebenden des Holocaust. Im Artikel berichtet die Schülerin von der bewegenden Veranstaltung.
[caption id="attachment_5454" align="alignleft" width="185"] Der Andrang zum Vortrag von Erna de Vries am 23. Mai war groß.[/caption]
Am 23. Mai 2017 fand im Schloss Münster die vierte Veranstaltung zum Thema „Krieg im Leben – Leben im Krieg“ statt, die von der Studenteninitiative Weitblick organisiert wurde. Eingeladen wurde neben Frau Kittel, die über Oral History und Zeitzeugen sprach, auch Erna De Vries, eine deutsche Überlebende des Holocausts.
Krieg ist für viele Jugendliche unserer Generation ein Begriff ohne weitreichende Bedeutung, auch wenn er für Menschen in Syrien oder im Irak immer noch allgegenwärtig ist. Dennoch ist die Geschichte Deutschlands geprägt durch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, einen der größten Völkermorde, die es jemals gab. Die Zeitzeugen, die dieses grausame Kapitel überlebt haben, werden immer weniger und ihre Geschichten geraten mehr und mehr in Vergessenheit. Umso wichtiger ist der Dialog mit Überlebenden, um einen Eindruck von dieser Zeit zu bekommen, die für uns unvorstellbar ist.
Erna De Vries – Eine beeindruckende Frau
Hunderte von Studenten kamen am Dienstagabend ins Schloss Münster, um genau diesen Dialog mit Erna De Vries führen zu können. Während wir uns zuerst den Vortrag von Frau Kittel anhörten, sahen wir anschließend den Film „Ich wollte noch einmal die Sonne sehen“. Er beruht auf der Geschichte von Erna De Vries und wurde von der Projektgruppe Zeitlupe produziert. Nach dem Film kam Erna De Vries, die heute 93 Jahre alt ist, mit Hilfe des Produzenten, der sie stützte, in den Raum. Jeder erhob sich von seinem Sitzplatz, klatschte und alle hatten Tränen in den Augen. Es gibt wohl keinen Menschen, vor dem man mehr Respekt haben könnte, als vor einer Frau, die trotz ihrer Leidensgeschichte immer wieder von kleinen menschlichen Gesten berichtet und die für mehr Mitmenschlichkeit kämpft.Freiwillig nach Ausschwitz
Im Alter von 19 Jahren entschied Erna, ihre Mutter in das polnische Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau zu begleiten. Sie wollte ihre Mutter unter keinen Umständen alleine lassen, obwohl sie wusste, was dieser Ort für sie beide bedeuten würde. Ende Juli 1943 werden die Frauen nach Ausschwitz-Birkenau gebracht. Tagelang sind sie mit Hunderten Juden in Zugwaggons eingepfercht wie Tiere. Als die Züge in Ausschwitz ankommen und die Wagentüren geöffnet werden, fallen die Toten heraus. Die anderen werden registriert, ausgezogen, rasiert, desinfiziert und gebrandmarkt. Noch heute wird Erna tagtäglich durch die schwarze Nummer an ihrem linken Unterarm an den Holocaust, die Demütigung, die Folter und die Angst erinnert. Aufgrund schwerer Verletzungen, die sie durch das Ungeziefer in den Unterkünften und ihre Zwangsarbeit bei der Fischzucht erleidet, kommt sie in den gefürchteten Todesblock 25 mit der Gewissheit, dass sie in den Gaskammern umgebracht werden wird. Es herrscht Todesangst und Verzweiflung, doch Erna de Vries hat nur einen einzigen Wunsch: Sie möchte noch ein einziges Mal die Sonne sehen.Bewegender Abschied für immer
Wie durch Gottes Hand wird Erna vor der Hinrichtung bewahrt, denn laut der Nürnberger Gesetze gilt sie als jüdischer Mischling ersten Grades, da ihr Vater Protestant war und ihre Mutter Jüdin. Sie soll in das deutsche Frauenkonzentrationslager Ravensbrück gebracht werden. Bevor sie Ausschwitz allerdings verlässt, möchte sie noch ein letztes Mal mit ihrer Mutter reden. Deren letzten Worte an Erna waren: „Du wirst überleben und dann wirst du erzählen, was sie mit uns gemacht haben.“ Danach verabschiedeten sich die beiden, in dem Wissen, dass sie sich nie mehr wiedersehen werden. [caption id="attachment_5455" align="alignleft" width="300"]